Den angeführten schiefen, paradoxen Anschauungen ist eins gemeinsam. Sie stammen aus Übergangszeiten, wo eine alte gesellschaftliche Ordnung im Sterben liegt und neue Formen des sozialen Lebens sich emporzuringen beginnen. In diesen Zeiten trägt die Kunst auffällig das Gepräge einer Dienerin, ja, das Brandmal einer Dirne der besitzenden und herrschenden Minderheit, erscheint sie nur als ein Luxus, eine Tändelei für diese und tritt daher mit ihrem Inhalt, ihrem Um und Auf in schroffen Gegensatz zu den Bedürfnissen und Anschauungen der emporstrebenden Massen. Das gilt sowohl von der Zeit, da Rousseau seine Abhandlung geschrieben hat, als von der, wo der philosophische Nihilismus in Russland in die Halme schoss, das gilt von heute, da Tolstoi mit den Gaben eines großen Künstlers und dem Fanatismus eines gewaltigen Sittenpredigers, der die Welt erneuern möchte, gegen die Kunst eifert. Über den hervorstechenden Merkmalen des Verfalls auf der einen Seite werden in solchen Zeiten leicht die Zeichen des neu emporblühenden Lebens auf der anderen übersehen. Eines Lebens, das auch die Kunst aus ihrem Verfall erlöst und ihr neue Entwicklungsmöglichkeiten und einen neuen, gesunden, höheren Inhalt schafft. Denn im Sein der Völker, der Menschheit, läuft Absterben und Emporblühen parallel einher. Wenn der Tod alte Formen der Wirtschaft und der mit ihnen zusammenhängenden politischen, rechtlichen, künstlerischen Verhältnisse ergreift, so hat auch die Geburtsstunde neuer Formen angehoben. Als Jean Jacques Rousseau sein Verdammungsurteil über die Kunst als eine Verderberin der Sitten fällte, holte die französische Philosophie — als Abglanz gewandelter wirtschaftlicher, sozialer Zustände — zu den kühnen Gedankenflügen aus, die zwar nicht in einem Zeitalter klassischer Kunst ihren Höhepunkt fanden, wohl aber in einer klassischen Tat der Politik: in der Großen Französischen Revolution. Die sozialen Kämpfe dieser Zeit haben aber in entscheidender Weise die Weiterentwicklung der Kunst beeinflusst; in Frankreich selbst und nicht zum wenigsten in Deutschland. Hier führte die gleiche wirtschaftliche Entwicklung — der Vormarsch der kapitalistischen Produktion — nicht zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie, dafür aber schlug diese ihre Emanzipationsschlacht auf dem Gebiet der Philosophie und Kunst, die sich zu klassischer Blüte erhoben.
Aber nicht nur um des hervorgehobenen geschichtlichen Zusammenhanges willen muss Rousseaus und Tolstois Anschauung zurückgewiesen werden. Es ist eine Tatsache, dass die Kunst eine alte, urwüchsige geistige Lebensäußerung der Menschheit ist. Wie das Denken, ja, vielleicht noch früher als das abstrakte Denken, hat sich der Drang nach künstlerischem Schaffen an der Tätigkeit, der Arbeit des primitiven Menschen entwickelt, und zwar an der gesellschaftlichen Arbeit. Kaum dass der Mensch sich von der Tierheit loszulösen beginnt, dass geistiges Leben in ihm die Augen aufschlägt, regt sich in ihm der künstlerische Schöpfungsdrang und lässt eine ganz einfache, rohe Kunst entstehen. Davon erzählen vorgeschichtliche Funde, die uns die Höhlenzeichnungen der steinzeitlichen Elefanten- und Rentierjäger kennen lehrten. Das bestätigt uns die Völkerkunde, die uns Tanz, Musik, Poesie wie bildliche und plastische Darstellungen als Ausdruck urwüchsigen Kunstsinns zeigt. Die Buschmänner und andere wilde Völkerstämme haben eine elementare Kunstbetätigung. Ehe sich ihre Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickelte, haben sie Ausdrucksmittel der sinnlichen Darstellung für Geschautes und Empfundenes gefunden.
Kein Wunder daher, dass leidenschaftliches Begehren nach künstlerischem Genießen und Schaffen zu allen Zeiten in den frondenden und beherrschten Gesellschaftsschichten lebendig gewesen ist. Auch darin hat das Feuer jenes prometheusischen Trotzes geleuchtet, der allen knechtenden Gewalten zuruft: “Ihr könnt mich doch nicht töten!” So sind aus den breitesten Volksmassen heraus der Kunst wieder und wieder verständnisvolle Jünger und Mehrer ihrer Schätze erwachsen. Aber eines müssen wir dabei festhalten. Solange die beherrschten Klassen sich ihres Gegensatzes zu den Herrschenden nicht klar bewusst sind, nicht danach trachten, ihn aufzuheben, können sie auch für die Kunst keine neuen gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, keinen neuen, weit reichenden Inhalt schaffen. Ihr künstlerisches Sehnen wird mit der Kunst ihrer Herren genährt, und die Kunst ihrer Herren ist es, die ihr leidenschaftlicher, künstlerischer Schöpfungsdrang bereichert. Erst wenn die Beherrschten als emporstrebende, rebellierende Klasse einen eigenen geistigen Lebensinhalt bekommen; erst wenn sie kämpfen, um drückende soziale, politische, geistige Fesseln zu sprengen: erst dann wird ihr Einfluss auf das künstlerische Kulturerbe der Menschheit zu einem selbständigen und daher wirklich fruchtbaren, zu einem entscheidenden. Ihr Anteil daran geht dann nicht bloß in die Breite, sondern in die Tiefe, er treibt neuen, weiteren Horizonten entgegen. Immer wieder sind es aus Knechtschaft zur Freiheit drängende Massen, die die Kunstentwicklung aufwärts- und vorwärts tragen, aus denen die Kraft erwächst, Perioden des Stillstandes, ja, des Verfalls der Kunst zu überwinden. Diese allgemeinen Zusammenhänge treffen auch für das Verhältnis des Proletariats zur Kunst zu. Sie irren, die im proletarischen Klassenkampf nur das Begehren nach Füllung des Magens sehen. Dieses weltgeschichtliche Ringen geht um das ganze Kulturerbe der Menschheit, es geht um die Möglichkeit der Entfaltung und Betätigung vollen Menschentums für alle. Das Proletariat kann als Klasse nicht an den Toren der kapitalistischen Trutzburg rütteln, es kann nicht aus der Nacht und Not der Fabriken empordrängen, ohne sich mit seinem eigenen Kunstsehnen und der Kunst unserer Zeit auseinanderzusetzen.
Wie findet das Proletariat die Kunst? Hat die Kunst die Freiheit, die eine Vorbedingung ihres Blühens und Reifens ist? Wir hören es gelegentlich, aber es ist nicht so. Als sich im Schoße der feudalen Ordnung die bürgerliche Gesellschaft entwickelte, setzte auch der Kampf der Künstler für ihre Freiheit, für die Freiheit der Kunst ein. Die Geschichte zeigt uns, wie schwer und zähe die Künstler gerungen haben, um sich aus den Fesseln des zünftigen Handwerks zu lösen, um aber auch die Sklavenketten zu brechen, die sie an den Adel und die weltlichen wie geistlichen Fürsten banden und ihr Schaffen zu einem höfischen Lakaiendienst herabdrückten. Die Künstler haben gesiegt, ihr Erfolg war ein Teil des Triumphes der bürgerlichen Gesellschaft, die sich auch in ihrem Streben angekündigt hatte. Die Kunst wurde zu einem so genannten liberalen Beruf.
Aber was besagt das in einer Ordnung der kapitalistischen Warenproduktion, die der wirtschaftliche Mutterboden der bürgerlichen Gesellschaft ist? Nichts anderes, als dass auch die Kunst den ehernen Gesetzen eben dieser Warenproduktion untertan ist. Die Grundlage der kapitalistischen Warenproduktion ist die Unfreiheit der menschlichen Arbeit. Solange die menschliche Arbeit überhaupt unfrei ist, bleibt wie die Handarbeit so auch die Kopfarbeit geknechtet, müssen Wissenschaft und Kunst unfrei bleiben. Neben dem Proletarier mit schwielenharter Faust trägt der forschende Gelehrte, der schaffende Künstler das Joch der kapitalistischen Ordnung. Die Kunst geht nach Brot, muss nach Brot gehen, weil der Künstler leben will. Um zu leben, ist er gezwungen zu verkaufen, was sein Genius ihm zu schaffen befahl. Die Ordnung des Kapitalismus kennt nur käufliche und verkäufliche Waren. Ware wird auch in ihr, was die Kunst gestaltet. Wie Kleiderstoffe und Kaffee muss die künstlerische Ware ihren Markt erobern. Wer ist es, der ihn beherrscht? Nicht der kleine Kreis der Kunstverständigen und Kunstgenießenden, nein, die Unkultur und Halbkultur, der Luxus, das Zerstreuungs- und Betäubungsbedürfnis eines “zahlungsfähigen Pöbels”, um diesen groben Ausdruck zu gebrauchen.
Dieser harte Tatbestand bricht den hohen Idealismus so manches Künstlers, der in faustischem Drange Himmel und Erde in seine Werke bannen wollte, der gierig nach goldenen Schätzen der Kunst grub und sich schließlich damit begnügte, die Regenwürmer einer angesehenen und einträglichen Stellung in der Gesellschaft zu finden. Das Leben zertritt unendlich viele von denen, für welche die Kunst “die hohe, die himmlische Göttin” bleibt und nicht zur “milchenden Kuh” herabgewürdigt wird, die sie mit Butter versorgt. Nur die ganz Starken, die warten können, wahren sich die Freiheit, künstlerisch auszusprechen, was ein Gott zu sagen ihnen gegeben. Und was ist das Los derer, die sich den Forderungen des Marktes beugen und den Tageserfolg einheimsen? Sie erliegen der handwerksmäßigen Schablone oder der Sklaverei der Tagessensation. Die Unrast des kapitalistischen Kunstmarktes, der Stachel der Konkurrenz treibt vorwärts, zerstört die äußeren und inneren Vorbedingungen für das Ausreifen großzügiger Werke. Die bildenden Künstler produzieren in fieberhafter Hast für die großen Warenbasare ihrer Kunst, Ausstellungen genannt; der Komponist schafft ebenso den “Cloti” der neuen Saison, der Schriftsteller hetzt sich ab für den Weihnachtsmarkt usw. Der Künstler geht in dem betriebsamen Industriellen und Händler mit künstlerischen Waren unter, sein künstlerisches Kapital ist bald vertan, aus einem Mehrer wird ein Fälscher der Kulturwerte. In den aufgezeigten Zusammenhängen ist mit der Grund dafür zu suchen, weshalb in unserer Zeit die Kunstströmungen einander so rasch ablösen, die “berühmten” künstlerischen Tagesgrößen außerordentlich rasch verbraucht sind. Was heute als höchste Offenbarung künstlerischen Genies in die Wolken gehoben wurde, ist in höchstens zehn Jahren vergessen und hat nur noch historisches Interesse. Eine andere charakteristische Erscheinung macht sich breit. Die aufgezeigten Verhältnisse zeitigen eine Afterkunst. Der Kapitalismus erzeugt das sie ausbeutende Unternehmertum, die ausgebeuteten Kräfte, die zum Teil von dem künstlerischen Lumpenproletariat gestellt werden, das ein ureigenes Kind der heutigen Ordnung ist, und er schafft schließlich das kaufende Publikum von unten wie oben. Zu den Erscheinungen dieser Afterkunst gehören die Tingeltangel, sehr viele Varietes, die pornographischen Erzeugnisse der Literatur und Graphik, aber ebenso auch die dynastischen und patriotischen Denkmäler auf Abzahlung usw.
Es drängt sich die Frage auf, könnte nicht der heutige Staat als größter Auftraggeber die Kunst aus ihrer Misere emporheben? Er kann es nicht, denn er ist der Staat der besitzenden und herrschenden Minderheit und nicht der Ausdruck eines einheitlichen Volksganzen und Volkswillens. Auch er ist untertan den Gesetzen der kapitalistischen Ordnung, deren Geschöpf er ist. Dieser Umstand ist entscheidender für sein Verhältnis zur Kunst, als es die Launen und Liebhabereien eines Monarchen sein können. Bei uns in Deutschland wird der Tatbestand verdunkelt durch die künstlerische Selbstherrlichkeit Wilhelms II., der wir die Lauffschen Dramen verdanken, die Hohenzollerndenkmäler der steinernen Pappelallee und andere künstlerische Gräuel und Scheuel … Was sich darin offenbart, ist aber im letzten Grunde nicht der gewaltige und zwingende Einfluss eines Monarchen, es ist die Abdankung der deutschen Bourgeoisie vor dem persönlichen Regiment auch auf dem Gebiet der Kunst.
Nur wenn sich die Arbeit vom Joche des Kapitalismus befreit, nur wenn damit die Klassengegensätze in der Gesellschaft aufgehoben werden, nimmt die Freiheit der Kunst Leben und Gestalt an, kann der künstlerische Genius frei die höchsten Flüge wagen. Vor der Sozialdemokratie hat das ein Berufener im Reiche der Kunst erkannt und verkündet: Richard Wagner. Seine Abhandlung “Die Kunst und die Revolution”1 bleibt ein klassisches Zeugnis dieser Auffassung. Dort heißt es: “Aus dem entehrenden Sklavenjoche des allgemeinen Handwerkertums mit seiner bleichen Geldseele wollen wir uns zum freien künstlerischen Menschentume mit seiner strahlenden Weltseele aufschwingen; aus mühselig beladenen Tagelöhnern der Industrie wollen wir alle zu schönen, starken Menschen werden, denen die Welt gehört als ein ewig unversiegbarer Quell höchsten künstlerischen Genusses.” Klar zeigte Wagner auf die Wurzel hin, aus der “das Elend des Handwerkertums” emporwächst, die “Tagelöhnerei der Industrie”. Hören wir ihn: Solange in einem Volke alle Menschen nicht gleich frei und glücklich sein können müssen alle Menschen gleich Sklaven und gleich elend sein. Wagner antwortete auch unzweideutig auf die Frage, wie die gleiche Sklaverei für alle überwunden, wie ein freies künstlerisches Menschentum für alle erblühen könne. Er sagt, der Zweck der geschichtlichen Entwicklung sei der starke Mensch, der schöne Mensch. “Die Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit!” Aus dieser Äußerung geht — nebenbei bemerkt — hervor, dass der schöne und starke Mensch, den Wagner ersehnte, nicht die viel berufene “Persönlichkeit” des Individualismus ist, nicht die blonde Bestie des Übermenschen, sondern die harmonisch entfaltete Persönlichkeit, die sich mit dem Ganzen untrennbar verbunden, die sich als eins mit ihm fühlt. Die Revolution ist die Tat der Massen, und die höchste Kunst wird immer Ausdruck geistigen Massenlebens bleiben.
Wir wissen, dass die soziale Revolution, welche mit der Arbeit auch die Kunst befreit, das Werk des kämpfenden Proletariats sein muss. Aber das kämpfende Proletariat reicht der Kunst mehr als diese Zukunftsverheißung. Sein Ringen, das Bresche auf Bresche in die bürgerliche Ordnung legt, bahnt neuen künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten die Wege und verjüngt die Kunst durch einen neuen Gedankeninhalt, der über das geistige Leben der bürgerlichen Ordnung hinausreicht und künftiges Menschheitsleben ist. Der Inhalt des proletarischen Klassenkampfes erschöpft sich keineswegs in wirtschaftlichen und politischen Forderungen. Er ist auch der Träger einer neuen Weltanschauung, die ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes bildet. Es ist die Weltanschauung des Sozialismus, wie sie sich auf den Ergebnissen der Naturwissenschaften und der Gesellschaftswissenschaften aufbaut, die mit den Namen Darwin und Marx verknüpft — von der Philosophie zusammengefasst werden. Diese Weltanschauung keimt und reift im Flammen und Wettern der Klassenkämpfe unserer Tage. Sie entwickelt sich in dem Maße, als der Kapitalismus die gesellschaftliche Wirtschaft umwälzt und der kommunistischen Ordnung freier Arbeiter entgegentreibt; in dem Maße, als sich damit soziale Einrichtungen wandeln, als das Empfinden, Denken, Wollen der Menschen revolutioniert wird. Am tiefsten muss die Psyche und die Gedankenwelt der Klasse umgepflügt werden, die durch ihre Lebensbedingungen in einen unversöhnlichen, dauernden Gegensatz zu der geltenden Wirtschaftsordnung und ihrem ideologischen Überbau gerät. Diese Klasse ist das Proletariat. Sein Denken und Begehren schreckt nicht, dem der Bourgeoisie gleich, vor den Schranken der bürgerlichen Gesellschaft zurück, umgekehrt, es strebt über diese Schranken hinaus, es weiß, dass es sie zertrümmern muss. Daher nimmt die kämpfende Arbeiterklasse vorurteilslos und kühn die Konsequenzen aller Forschungsergebnisse auf. Je bewusster und kraftvoller ihr Kampf wider die kapitalistische Ordnung wird, um so schärfer tritt auch ihr geistiger Lebensinhalt in Gegensatz zu dem geistigen Leben der bürgerlichen Welt. Der proletarische Klassenkampf wird zum Träger neuer geistiger und sittlicher Ideale, ein neues eigenes kulturelles Leben beginnt unter den Enterbten emporzublühen. Der starke Pulsschlag dieses Lebens lässt die Sehnsucht nach künstlerischem Genießen und Gestalten ihre Flügel ausbreiten. Geschieht das, so ist es aber der eigene höchste historische Wesensinhalt seiner Klasse, den der Proletarier künstlerisch umgeformt nachempfinden, den er künstlerisch selbst erschaffen will.
Das Proletariat sehnt sich nach Kunstwerken, denen die sozialistische Weltanschauung Seele und Sprache verleiht. Damit gerät es in Gegensatz zu der bürgerlichen Kunst unserer Tage. Diese ist nicht die gesunde, entwicklungsfrohe Kunst einer jugendfrischen Klasse, die um ihre ganze Freiheit kämpft und sich damit als Trägerin der höchsten Menschheitsideale empfindet. Es ist die Kunst einer herrschenden Klasse, die sich auf dem absteigenden Ast ihrer geschichtlichen Entwicklung bewegt, einer Klasse, die den Boden ihrer Macht unter vulkanischen Kräften erzittern fühlt. So wird unsere zeitgenössische bürgerliche Kunst aus einer Stimmung der Götterdämmerung heraus geboren. Der Naturalismus, der die Kunst zu ihrem ewigen Urquell, der Natur, zurückführen wollte, der im Zusammenhang damit auch gedanklich als Gesellschaftskritik Wertvolles geleistet hat, ist zur flachen, leeren Kopie der Wirklichkeit hinab gesunken. Er gibt nur Wirklichkeit ohne große zusammenhängende Ideen. Der Idealismus unserer Zeit hinwiederum sucht seinen geistigen Inhalt in den kleinbürgerlichen Ideen der “Heimatkunst” und, wo er sich weitere Horizonte steckt, in der Abkehr von der Gesellschaft und der Gegenwart. Er flüchtet in die Vergangenheit oder jenseits der Wolken und verfällt als religiöser, ja frömmelnder Neumystizismus, als Neuromantik usw. Kurz, er gibt Ideen ohne Wirklichkeit. Woher sollte auch die bürgerliche Kunst die Vereinigung von Idee und Wirklichkeit nehmen? In der Welt des geschichtlichen Seins der bürgerlichen Klassen klaffen heute Idee und Wirklichkeit weit auseinander. Daher sind Anschauung und Stimmung dieser Klassen pessimistisch. Grober, kleinlicher Materialismus bei den einen, mystische Weltflucht bei den anderen wird zur Signatur der Zeit und damit der Kunst. Wie könnte solcher Inhalt der Kunst das Proletariat befriedigen? Es muss seinem ganzen historischen Sein nach optimistisch empfinden und denken. Hoffnungsfreudig jauchzen ihm die treibenden Kräfte im Wirtschaftsleben von dem Nahen einer neuen Zeit, von der Stunde der Erlösung, verheißungsstark spricht sein eigenes geistiges Leben davon. Hier ist eine Vereinigung von Idee und Wirklichkeit, wie sie heute nur durch die Ideologie der Massen geschaffen werden kann, die sich die höchsten Ziele setzen. Die Idee: der Sozialismus, der erhabenste Freiheitsgedanke, den die Menschheit je geträumt. Die Wirklichkeit: eine Klasse, die sich in reifer Erkenntnis und stahlhartem Willen anschickt zur gewaltigsten Tat, die die Geschichte kennt: die Welt zu verändern, statt sie anders zu interpretieren, um mit Marx zu reden.
Aus diesem Zusammenhang der Dinge heraus erwächst dem Proletariat das leidenschaftliche Bedürfnis nach einer Kunst, deren Inhalt Geist vom Geiste des Sozialismus ist. Tendenzkunst also, so schallt es uns entgegen. Wohl gar “politische” Kunst. “Politisch Lied, ein garstig Lied.”2 Das Proletariat hat dieses Gerede nicht zu fürchten. Sein Vater ist letzten Endes weniger der Wunsch, die ausgebeuteten Massen zu künstlerisch Genießenden zu erziehen, als vielmehr der andere, sie als geistig Bevormundete im Banne der bürgerlichen Ideenwelt zu halten. Wo die Religion versagt, soll die Kunst helfen. Nicht die “Tendenz” überhaupt tut man im Namen der Kunst in Acht und Bann, nur die “Tendenz”, welche der “Tendenz” der herrschenden Klassen widerstreitet. Übrigens ist die Geschichte da, um das Verfemungsurteil gegen die “Tendenz” in der Kunst Lügen zu strafen. Gewaltige, großzügige Kunstwerke aus allen Zeiten sind erfüllt vom Gluthauch der Tendenz. Was anders denn ist die Tendenz als Idee? Kunst ohne Idee aber wird zur Künstelei, zum künstlerischen Formelkram. Nicht die Idee, nicht die Tendenz schändet das Kunstwerk und entweiht es. Umgekehrt, sie soll und kann künstlerische Werte schaffen und steigern. Verderblich wird die Tendenz der Kunst nur dann, wenn sie äußerlich roh aufgepfropft wird, wenn sie mit künstlerisch unzulänglichen Mitteln redet. Wo dagegen die Idee von innen heraus mit künstlerisch reifen Darstellungsmitteln schöpferisch wird, zeugt sie Unsterbliches. So kann nicht bloß, so muss das Proletariat, statt jede künstlerische Modenarrheit der bürgerlichen Welt mitzumachen, seine eigenen Wege gehen, damit die Kunst aus dieser Zeiten Not neuen, höheren Inhalt gewinnt.
Im Proletariat selbst mehren sich die Zeichen, dass es als aufstrebende Klasse nicht bloß Kunst genießend sein will, sondern auch Kunst schöpferisch. Das beweisen vor allem die Arbeitersänger und Arbeiterdichter. Die Welt bürgerlicher Kunstfreunde und Kunstverständiger, die über die primitiven künstlerischen Erzeugnisse grauer Vorzeit und wilder Völkerschaften als über Offenbarungen des Menschheitsgenius in Ekstase gerät, hat im allgemeinen nur Hohn oder Mitleid für das, was Proletarier oft mit noch unbeholfener Hand, aber mit heißer, zuckender Seele zu gestalten versuchen. Es fehlen ihr die Organe für das richtige Erfassen und Werten dieser Kunst von “Primitiven”, deren Schöpfungen Symptome sind, mit denen sich eine Weltwende ankündigt, die eine Renaissance der Kunst in ihrem Schoße trägt. Eine solche Renaissance erfolgt ebenso wenig künstlerisch als sozial aus dem Nichts. Sie knüpft an Vorausgegangenes, Vorhandenes an. Aber die Kunst einer ins Licht der Kultur emporsteigenden Klasse kann ihre Anknüpfungspunkte und ihre Vorbilder nicht von der Kunst einer geschichtlich verfallenden Klasse nehmen. Das bestätigt die Geschichte der Kunst. jede emporstrebende Klasse sucht ihre künstlerischen Vorbilder auf den Höhepunkten der früheren Entwicklung. Die Renaissance knüpfte an die Kunst Griechenlands und Roms an, die deutsche klassische Kunst an die Antike und die Renaissance. Bei aller Würdigung der künstlerischen Anregungen und Ausdrucksmittel, um welche die zeitgenössischen Kunstströmungen das künstlerische Erbe bereichern, wird darum die Kunst der Zukunft für ihre Wegweiser über sie hinweg zur klassischen Kunst des Bürgertums greifen. Der Sozialismus ist die konsequente Weiterentwicklung und Umbildung des weltbürgerlichen Liberalismus, der ihr geistiger Gehalt war. Seine Kunst — um so zu reden — wird auch die Fortbildung der großen, klassischen, bürgerlichen Kunst sein, die das Geschöpf dieses liberalen Gedankens gewesen ist. Ist es nicht reichstes, lebendigstes, künstlerisches Sein, das uns grüßt aus Goethes Osterspaziergang, in dem die Sehnsucht nach dem Hinaus aus den drückenden Schranken der feudalen Gesellschaft eine künstlerisch vollendete Verklärung gefunden hat? Aus Schillers wonnetrunkenem Weltverbrüderungsruf: “Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt!” Aus dem ungeheuren Jubel einer befreiten Menschheit in Beethovens Neunter Symphonie, der elementar, riesenhaft in dem Chor durchbricht “Freude, schöner Götterfunken!”
Friedrich Engels hat das stolze Wort gesprochen, dass die deutsche Arbeiterklasse die Erbin der klassischen Philosophie ist. Sie wird in dem aufgezeigten Sinne auch die Erbin der klassischen Kunst ihres Landes sein. Es ist ein weiter Weg, den sie noch zu gehen hat, ehe sie dieser ihrer geschichtlichen Aufgabe ganz gerecht werden kann. Eine Tatsache lässt das erkennen. Die Räume, die das Heim des kämpfenden Proletariats sein sollen, in denen sich ein wichtiger Teil seines geschichtlichen Lebens abspielt, die den Zwecken seiner Organisation dienen und seine Versammlungen aufnehmen, diese Häuser sind nicht aus seiner sozialistischen Weltanschauung heraus künstlerisch gestaltet. Unsere Gewerkschafts-, Volks- und Geschäftshäuser unterscheiden sich in ihrem Stil — Stil als äußere Form inneren Seins gefasst — in nichts von irgendwelchen bürgerlichen Geschäfts- oder Verkehrshäusern. Die innere künstlerische Beziehung zu dem Inhalt des Lebens, das in ihnen pulsiert, wird wahrhaftig nicht dadurch geschaffen, dass ein oder der andere Raum mit einer frostigen Allegorie der Freiheit usw. geschmückt wird. Kurz, das geistige Leben der Arbeiterklasse hat bis jetzt noch nicht den geringsten Ausdruck in der architektonischen Formensprache gefunden. Das Proletariat selbst aber hat den Gegensatz, das Missverhältnis zwischen dieser und seinem eigenen inneren Sein noch nicht einmal so stark und bewusst empfunden, dass sein künstlerisches Bedürfnis einen bestimmenden Einfluss zu üben begönne. Gewiss: Die Baukunst ist die höchste und schwierigste aller Künste, aber sie ist auch die sozialste von allen, der stärkste Ausdruck eines Gemeinschaftslebens. Man denke an die gotischen Kirchen, in denen das höchste geistige Sein der zünftlerischen Stadtbevölkerung der feudalen Gesellschaft seinen künstlerischen Ausdruck gefunden hat.
Doch zurück zum Ausgangspunkt! Ist der Weg weit und unter der Ungunst der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft besonders schwierig, den das Proletariat wandern muss, um im wahren Sinne der Erbe der klassischen Kunst zu werden, so ist es um so dringlicher, es auch für diese seine Mission zu rüsten. Es kann sich dabei nicht um blindes, kritikloses Anempfinden und Anbeten bürgerlicher Kunst handeln. Wohl aber gilt es, ein Kunstempfinden und Kunstverständnis zu wecken und zu pflegen, dessen feste Grundlage der Sozialismus als Weltanschauung ist, die gewaltige Ideologie des kämpfenden Proletariats und eines Tages der befreiten Menschheit. Seinen reifen schöpferischen Ausdruck wird freilich ein solches Kunstempfinden und Kunstverstehen innerhalb der Kerkermauern dieser kapitalistischen Ordnung nicht finden. Die heiß ersehnte Renaissance der Kunst — das ist meine persönliche Ansicht — ist erst jenseits ihrer möglich, auf jener Insel der Seligen, der sozialistischen Gesellschaft. Der Hammerschlag der sozialen Revolution wird auch in dieser Beziehung zur erlösenden Tat. —
Aristoteles hat den bekannten Ausspruch getan, dass die Sklaverei als Grundlage des höheren Lebens der Freien überflüssig sei, wenn die Weberschiffchen, die Mühlsteine sich von selbst bewegten. Diese Vorbedingung ist heute erfüllt. Das Maschinenzeitalter hat Sklaven aus Eisen und Stahl erstehen lassen, die menschlichen Winken gehorchen. Führen wir diese Sklaven, die heute dem Reichtum und der Kultur einer Minderheit dienen, aus dem Privatbesitz in das Eigentum der Gesellschaft über! Dann wird mit der Sicherung des materiellen Lebens und kultureller Entwicklungsmöglichkeit für alle auch die Kunst aus einem Vorrecht verhältnismäßig weniger zu einem Gemeingut für alle. Sie kann dann nicht mehr herabgewürdigt werden zum leeren Sinnenrausch für grobe Genussmenschen, zur Tändelei für sich langweilende Müßiggänger, zum Narkotikum für weltflüchtige Schwächlinge. Sie wird zum höchsten Ausdruck der schöpferischen Kraft eines Volkes, zum klaren Springquell reinster Freude und Erhebung, zu einer gewaltigen erzieherischen Macht, die sich am einzelnen und an der Gesamtheit bewährt. Nicht in dem Sinne, dass jeder einzelne zum künstlerisch Schöpferischen wird, wohl aber insoweit, dass die Massen künstlerisch Verstehende und künstlerisch Genießende sein können. So wird die Kunst dazu helfen, dass das Wort des Ästhetikers Vischer seine Erfüllung findet, der über alle Künste die schöne Lebenskunst stellt: der einzelne in seiner Persönlichkeit, in seiner Lebensbetätigung ein Kunstwerk, ein aus innerster Notwendigkeit sich gestaltendes, geschlossenes harmonisches Ganzes. Das Zukunftsvolk der freien Arbeit wird das Volk der freien Kunst sein. Ihm werden die großen schöpferischen Gestalter nicht fehlen, die individuell künstlerisch erfassen und formen, was Gemeinschaftsempfinden, Gemeinschaftsdenken, Gemeinschaftswollen ist. Denn alle große Kunst lebt von dem geistigen Herzblut einer großen Gemeinschaft.